Leseprobe 3

Das 26. Kapitel

 

   Paul wachte schweißgebadet auf, einem fürchterlichen Traum entronnen. Er stand auf dem Kronberger Marktplatz. Der Platz war menschenleer. Plötzlich fing eine Glocke wie wild an zu schlagen, fast schien es, sie wolle herunter springen. Paul fühlte sich von starken Händen gepackt und zur Kirche geschoben. Herr Gassner und der Kirchendiener schoben ihn durch die Tür.

Der Raum war fast bis auf den letzten Platz besetzt. Alle Augen richteten sich auf Paul. Ein Platz ist noch frei, flüsterte ihm Herr Gassner ins Ohr und schob ihn zur ersten Reihe. Paul wollte sich setzen, aber in diesem Moment erhob sich die Gemeinde. Der Pfarrer stand am Lesepult: „Ich begrüße Sie alle zu dieser außergewöhnlichen Morgenfeier!“, die Orgel erklang, alle stimmten in den Choral ein. „Ich lese den Predigttext.“ Während des Lesens begann der Geistliche, wie in Trance zu tanzen, er hatte das schwere Buch in der Hand, ging mit wiegenden Schritten hin und her.

„Wir hören Worte aus der Bergpredigt.“ Die Orgel spielte jetzt leiser, Paul sah Doris an der Orgel sitzen, er kannte das Stück, das sie spielte, sie hatte es oft gespielt, wenn sie leise spielen sollte, weil gleichzeitig gesprochen wurde. Paul wollte auf die Musik hören, aber der Pfarrer rief laut: „Matthäus 7, Vers 20!“ Es wurde totenstill in der Kirche, auch die Orgel schwieg. Der Pfarrer stand wieder hinter seinem Pult. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, es werden nicht alle, die zu mir rufen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel. Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben?“

Den nächsten Satz konnte Paul nicht verstehen, alle drehten sich um und blickten auf Frau Röll, die sich von ihrem Platz erhoben hatte. „Dann werde ich zu Ihnen sagen“ – und jetzt schaute auch der Pfarrer Frau Röll an – „werde ich zu Ihnen sagen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!“ Ein Raunen ging durch den Raum.

Frau Röll schrie laut: „Wieso schaut ihr mich an? Ich habe es für euch alle getan und ihr habt alle mitgemacht.“ Neben Babette Röll hatte sich jetzt auch Frau Gassner erhoben: „Holt eure Briefe heraus!“, rief sie durch den Raum.

Herr Gassner war aufgesprungen, hatte dem Pfarrer das schwere Buch aus der Hand gerissen. „Es ist die falsche Übersetzung, ich werde sofort das richtige Buch holen!“, rief er kreidebleich, die Orgel setzte ohrenbetäubend ein, wollte alles übertönen, die Sätze noch im Nachhinein unhörbar machen, alle schrieen durcheinander, Herr Gassner und der Pfarrer zerrten an dem schweren Buch.

Da bemerkte Paul, das rechts neben ihm Herr Theurer saß, er wollte sich abwenden, doch links von ihm saß sein früherer Stellvertreter und sagte mit breitem Grinsen: „Das hättest Du nicht gedacht, lieber Paul, dass wir so viele sind“. Herr Theurer zog einen weißen Briefumschlag aus der Jacke und winkte damit Frau Gassner zu, plötzlich hielten alle in der Kirche einen weißen Umschlag in die Höhe und Herr Theurer sagte: „Siehst Du jetzt, wie oft wir über Dich zu Gericht saßen?“

Paul wollte aufspringen, aus der Kirche laufen, aber Herr Theurer hielt ihn fest. In diesem Moment sprang Frau Utz auf die Bühne und verteilte viele Hüte auf den Köpfen der Umstehenden, so wie sie es immer getan hatte, wenn sie die Rollen für das nächste Theaterstück zuteilen wollte. Dem Pfarrer setzte sie ein Barett auf, Herrn Gassner einen Räuberhut. Pauls Nebensitzer erhielt einen Bowler und Herr Theurer bekam eine Zipfelmütze verpasst. Jetzt zeigten alle auf Frau Utz: „Sie ist es gewesen!“, ertönte es von allen Seiten. Blitzschnell war Frau Utz unter einem schwarzen Tuch verschwunden und stand starr wie eine Statue neben dem Lesepult. Herr Gassner wurde jetzt wütend, riss sich den Räuberhut vom Kopf und setzte ihn der Statue auf. „Wir singen jetzt gemeinsam!“, sagte der Pfarrer. Alles begann sich zu drehen und Paul wurde schwarz vor den Augen.

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