Der Klavierspieler Band 2

Personen und Handlung sind frei erfunden. Eine Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder realen Orten wäre somit rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Präludium

Im ersten Band des habe ich die Geschichte des Klavierspielers Paul Meinert erzählt. Am Rande eines Konzertes hatte ich ihn getroffen und mehr zufällig kamen wir ins Gespräch. Sehr schnell fasste ich den Entschluss, alles das aufzuschreiben und in eine Geschichte zu fassen, was er mir an diesem Abend und bei einigen weiteren Treffen berichtete. Viele Leser hat diese Geschichte fasziniert und es gibt nicht wenige Nachfragen, ob es denn eine Fortsetzung gäbe. Nun, ich gestehe, auch ich selbst war durchaus neugierig und habe Paul Meinert wieder aufgesucht und mir auch das Städtchen Kronberg und seine Umgebung näher angeschaut.

So saß ich nach langer Zeit meinem Freund wieder gegenüber. Sein Büro wirkte aufgeräumter als beim letzten Mal, vielleicht lag es auch nur an den vielen Türen, die mittlerweile das Chaos der Bücher- und Notenregale verhüllten. Die neue Kaffeemaschine lieferte ein köstliches Getränk und von draußen schmeichelte uns die warme Herbstsonne, die sich heute den Stadtpark von Kronberg ausgesucht hatte.

"Was treiben denn die Fundisten?" fiel ich mit der Tür ins Haus. "Gibt es wieder eine neue Verleumdungskampagne?" "Aber nein", grinste Paul, "es ist alles in bester Ordnung. Inzwischen erhalte ich sogar wieder offizielle Einladungen zu Jubiläen oder Einweihungen. Leider bin ich meist verhindert", ergänzte er mit einem Augenzwinkern. "Hier ist alles ruhig und friedlich. Dafür geht es in den Nachbarorten hoch her. Man hat fast den Eindruck, Kronberg verliert den Status als Fundisten-Hochburg." "Na ja, das kann dir ja egal sein," antwortete ich, "damit müssen sich dann andere herumschlagen." So einfach ist es nicht", erwiderte Paul, "die Fundisten in der Nachbarschaft haben nämlich ein neues Betätigungsfeld gefunden. Ich hätte das nie für möglich gehalten, aber sie gründen eine Musikschule nach der anderen." "Das kann nicht sein," sagte ich, "jetzt erzählst du mir aber wirklich eine Räuberpistole." "Nein, ganz im Gegenteil", Paul war ernst geworden, "ich erzähle dir mal, was eben so passiert ist." Den Notizblock hatte ich schon in der Hand. 

1. Markus Rehmaier

Markus Rehmaier saß an seinem Schreibtisch und grübelte. Im Moment lief es nicht optimal bei ihm. Dabei hatte er doch so gute Ideen gehabt bei seinem Amtsantritt. Alles würde er umkrempeln. Zumindest hatte er sich dies vorgenommen. Insbesondere die Musik. Wie gerne wäre er selbst Musiker geworden, aber dazu hatte es nicht gereicht. Aber nun war er der Vorgesetzte von Musikern, von vielen. Denen musste man genau vorschreiben, was sie zu spielen hatten. Und was sie nun nicht mehr zu spielen hatten. Diese Musiker mussten endlich begreifen, dass ihre Kunst ab jetzt eine ausschließlich dienende Funktion haben würde. Und Markus Rehmaier war nicht alleine mit dieser Ansicht. Nicht umsonst hatte er sich gerade um diese Pfarrstelle beworben. In der Nachbargemeinde residierte schon seit zwei Jahren ein guter Freund. Lukas Gretlmann kannte er noch vom Studium. Lukas hatte auch eines Tages diese Idee gehabt. Sie hatten die halbe Nacht diskutiert, über den richtigen und den falschen Glauben. Es war unglaublich, wie viele ihrer Mitstudenten keinen richtigen Glauben hatten. Alles, aber auch alles mussten sie in Frage stellen, nichts war ihnen heilig. Dabei gab es da nichts zu fragen. Es gab nur etwas zu glauben. Und es gab nur richtig oder falsch. Lukas war mit ihm da einer Meinung. Er bewunderte seinen Freund im Stillen. Wie gut er reden und formulieren konnte. Wie er mit einem einzigen Satz eine Diskussion von mindestens einer Stunde mühelos überstand. Er hatte die unglaubliche Fähigkeit, seinem Gesprächspartner einfach gar nicht zuzuhören. Dessen Argumente prallten somit ungehört an ihm ab, ganz gleich, wie gut diese Argumente auch sein konnten. Aber die Lösung hieß, einfach nicht zuzuhören.Markus Rehmaier war beeindruckt von den Fähigkeiten seines Freundes, Lukas war zum Prediger geboren. Predigen war eine Einbahnstraße, eine Verkündigung, eine Mission. Ja, ein Prediger war ja schließlich auch ein Missionar.

Die Mission war Rehmaiers wichtigstes Anliegen, seit er denken konnte, fühlte er sich zum Missionar berufen. Mission war einfach etwas Großartiges, sie vermittelte Selbstbewußtsein und Größe. Der Auftrag kam schließlich von ganz oben. Niemand hatte das Recht, diesen Auftrag überhaupt in Frage zu stellen. Da kamen sie immer wieder, die Kritiker, immer mit den ewig gleichen Anwürfen: wie viel Unheil die christliche Mission schon angerichtet habe im Laufe der vielen Jahrhunderte ihrer Geschichte. Na und? pflegte Rehmaier stets zu antworten. Na und? Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Die Mission war schließlich immer in Gottes Auftrag geschehen. Also waren die Begleiterscheinungen doch auch in Gottes Verantwortung. Und wenn Gott es schließlich so angeordnet hatte, dann war die Vernichtung anderer Kulturen, die Vernichtung vieler Menschen durch eingeschleppte Krankheiten oder durch Religionskriege auch sein Wille. Davon war Rehmaier überzeugt. Die einen, also die Guten, mussten sterben, weil sie gelobt hatten, für die gute Sache auch ihr Leben zu geben. Die anderen, denen man das Evangelium bringen musste, die waren ja auch noch vom Unglauben, vom Bösen besessen. Die musste man erlösen von ihrem Leben im Unglauben.

Ja, aber das war ja alles schon Geschichte. Heutzutage konnten die Missionare nicht mehr so uneingeschränkt wirken wie in früheren Zeiten. Überall wurde man beobachtet. Die Presse wollte aus allem immer nur einen neuen Skandal machen. Da war es an der Zeit, neue Wege zu beschreiten. Und deshalb fand er die Idee seines Freundes Lukas Gretlmann auch so bestechend. Man brauchte Missionare längst nicht mehr nur in Afrika oder Lateinamerika. Nein, hierzulande gab es eine besorgniserregende Entwicklung: die Kirche verlor mehr und mehr an Mitgliedern. Hier im eigenen Lande musste man also missionieren. Aber wie? Den Leuten auf der Straße einfach eine Bibel in die Hand drücken? Während gegenüber die Salafisten den Koran verteilten?

Eine ganz andere Verpackung musste her. So hatte es Lukas erklärt. Man musste dort missionieren, wo die Leute es zunächst gar nicht vermuteten. Und man musste schon die Kinder für die gute Sache gewinnen, rechtzeitig, bevor sie in das Alter kamen, in dem sie begannen, kritischer zu denken und womöglich in der Lage waren,ihre Lehrer zu durchschauen. "Ist Dir nicht auch aufgefallen, welch großen Zuspruch die Jugendmusikschulen schon seit vielen Jahren zu verzeichnen haben?" fragte Lukas. "Ja schon, aber was hat das mit uns zu tun? Dort gehen die Kinder hin und bei uns bleiben sie weg, das hab ich schon bemerkt," antwortete Markus, "aber willst Du deswegen jetzt auch eine Musikschule aufmachen?" "Genau das will ich machen," strahlte ihn Lukas an, "ganau das. Eine christliche Musikschule! Seelenfang durch Saitenklang! Ist das nicht genial?" Natürlich war es genial. Lukas hatte einfach die besseren Ideen. Aber Markus war noch immer nicht zufrieden: "Wie willst Du das denn machen? Du brauchst doch Strukturen! In der Landeskirche wird das nicht gehen. Dafür sitzen in der obersten Kirchenbehörde zu viele Ufos." "Ich weiß", lächelte Lukas, " aber es gibt ja noch die Afus, die werden das für mich machen."

2. Die Afus

Bevor wir den zwei Pfarrherren weiter zuhören, muss ich diese sonderbaren Begriffe erklären. Im ersten Band des "Klavierspielers" ist Paul Meinert den Fundisten begegnet. Unsere beiden Gesprächspartner mag man diesen durchaus auch zuordnen. Sie gehören zu den Theologen, die sich damit begnügen, die Bibel wörtlich zu nehmen und sich darauf spezialisiert haben, den Menschen die Welt in einfachen Worten zu erklären. Dass es nun Menschen gibt, die mit dieser Einfachheit des Geistes nicht zufrieden sind, passt nicht in das Weltbild unserer Einfach-Theologen, vielmehr löst es bei ihnen regelrechte Agressionen aus, wenn es jemand wagt, etwas, was einfach so geschrieben steht, in Frage zu stellen, womöglich sogar die Frage nach einem Übersetzungsfehler zu stellen oder eine interpretierende Bidelausgabe zu vermuten. Solche Selbstdenker werden von Thelogen wie Rehmaier und Gretlmann ganz einfach als Unfromme, oder kurz gesagt als Ufos bezeichnet. 

Diesen Konflikt gibt es natürlich schon länger und so hat sich schon vor über 150 Jahren eine Gemeinschaft gegründet mit dem Ziel, sich theologisch nie wieder weiter zu entwickeln. Sie nennen sich Altfundisten und wollen mit diesem Namen dokumentieren, dass sie noch unerschütterlicher fundamentalistisch denken und handeln als die normalen Fundisten. Insbesondere die schreckliche Geschichte der Mission wollen sie nicht aufarbeiten, sondern fortsetzen. Ein besonders dunkles Kapitel ist die Judenmission. Der in der Landeshauptstadt Hengstenberg residierende Landesrabbiner nannte das Wirken der Altfundisten erst kürzlich einen "Holocaust mit anderen Mitteln". Nur in einem Punkt scheinen sich die Altfundisten dem Zeitgeist zu beugen: eine schöne griffige Kurzform für ihre Gruppierung soll zumindest den Anschein von Modernität vermitteln, seitdem nennen sie sich kurz und einfach "Afus", eine sprachliche Wortschöpfung der Sonderklasse, die man nicht weiter kommentieren muss.

Zu diesen Afus gehören auch unsere beiden geistlichen Brüder, deren Gespräch wir eben belauscht haben.

3. Ein Anruf

Ein wunderschöner Spätsommertag ging seinem Ende entgegen. Paul Meinert hatte sich in den Sommerferien gut erholt, neue Kraft geschöpft. Diese Kraft würde er auch benötigen, denn ein großes Projekt stand bevor. Mit einigen benachbarten Chören sollte Verdis Requiem aufgeführt werden, eigentlich eine Nummer zu groß für Kronbergs kleine Musikschule, aber schließlich feierte man Verdis 200. Geburtstag, so eine Gelegenheit würde sich so schnell nicht wieder finden. Probenpläne mussten geschrieben werden, das Plakat war schon entworfen, das Programmheft aber noch geschrieben werden. Und dann waren auch noch viele Kollegen erkrankt, keine guten Bedingungen für den Start ins neue Schuljahr. Aber Meinert war guter Dinge, die Sonne lachte ins Büro wie oft am späten Vormittag.

Das Telefon läutete. Der Kollege winkte aus dem anderen Zimmer: "Kann ich verbinden? Es scheint wichtig zu sein." Paul nickte und nahm den Hörer. Welche Überraschung! Ein alter Kollege und Freund war am Apparat. Paul hatte ihm unendlich viel zu verdanken, er hatte im Nachbarort die Musikschule geleitet und auch das Bezirkskantorat versehen. "Hallo Paul, entschuldige die Störung, aber ich bin völlig durch den Wind. Ich muss dir unbedingt erzählen, was hier gerade passiert." "So schlimm?" fragte Paul, "was ist passiert?" "Stell' dir vor, hier in meiner Kirchengemeinde in Schockhausen wurde vor kurzem eine Musikschule gegründet. Von der Kirche. Das heißt, eigentlich nicht von der Kirche, nach außen hin ist es die Kirche, die es betreibt, aber sie verstecken sich hinter einer anderen Organisation. Ich leite hier doch immer noch den Kirchenchor, und seit ich im Ruhestand bin, mache ich das sogar ehrenamtlich. Mein Herz schlägt ja für die Kirchenmusik und auch für die Musikschule. Und jetzt das! Eine sogenannte christliche Musikschule! Eine Konkurrenz für das, was ich in Jahrzehnten aufgebaut habe! Sind wir denn keine Christen? Wer braucht sowas? ich habe dem Pfarrer einen wütenden Brief geschrieben, aber es ist ihm einfach nur egal, was ich von der Sache halte. Aber du musst es unbedingt wissen, denn bei dir in der Stadt wird das von der Kirche jetzt auch schon geplant, und zwar in Mönchsheim. Ich weiß, ich dürfte dir das gar nicht erzählen, aber ich kann den Mund nicht halten. Ich kann nicht mit ansehen, wie diese Herrschaften uns alles kaputt machen." Paul war gar nicht mehr zu Wort gekommen. Seinen Freund kannte er als immer fröhlichen und besonnenen Menschen und er spürte, wie nahe ihm das alles zu gehen schien."Wer will das machen in Mönchsheim?" fragte er nach einer Pause. "Ihr habt doch jetzt den Neuen bei euch, diesen Rehmaier, der gehört auch zu den Fundisten und will jetzt dasselbe machen, was bei uns schon der Gretlmann macht." "Wer ist Gretlmann?" "Lukas Gretlmann ist schon seit zwei Jahren hier der neue Pfarrer und er hat diese komische Musikschule wohl gegründet, die Afus stecken da dahinter." "Wer sind die Afus?" "Na, diese Altfundisten, sie wollen missionieren und das gleich in der Klavierstunde. So ein Quatsch. Aber auf mich hört ja keiner. Du musst dich unbedingt drum kümmern, vielleicht kannst du es ja noch verhindern in Mönchsheim. Du kennst doch sicherlich ein paar Leute dort. Ich wünsche dir viel Glück, wir bleiben in Kontakt." Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb ein etwas ratloser Paul Meinert zurück.

4. Mönchsheim

Seit einiger Zeit gehörte Mönchsheim zu Kronberg. Kronberg-Mönchsheim hieß der Familienname dieser nicht immer glücklichen Ehe. Kronberg war geformt von der religiösen Gründerzeit, Mönchsheim war bis in die jüngste Zeit hingegen ein Ort bäuerlicher Prägung gewesen, dort wohnten Menschen, die mit der feinen Redensart der Kronberger Brüder wenig anzufangen wussten und zumindest die Mönchsheimer Urbevölkerung wirkte manchesmal fast grob neben den sanften Frömmlern. Die Mönchsheimer Pfarrherren waren in den vielen Jahren, die Paul Meinert miterlebt hatte, eher gemütliche Zeitgenossen gewesen. Es hatte sich nicht viel getan in der Mönchsheimer Kirchengemeinde, aber die Kirchenmänner waren immer gut ausgekommen mit allen anderen Institutionen in der Stadt. Vor einem Jahr nun hatten es sich die Mönchsheimer anders überlegt: wieder einmal hatte der Pfarrer, wie es so üblich war, nach einer stattlichen Anzahl von Jahren die Stelle gewechselt und die evangelischen Mönchsheimer mussten sich um einen neuen Pfarrer bemühen. Aber dieses Mal sollte alles anders werden, ein Mann der Tat sollte es endlich sein. Und wer vermutet hätte, hinter dem "Heiligen Kronberg" wäre ein Ort liberaler Prägung zu finden, der hatte sich gründlich getäuscht. Nun wollten sie dort auch einmal einen so strammen Prediger haben wie die Kronberger, jemanden, der die Aktivitäten der Gemeinde beflügeln konnte, man wollte nicht länger neidvoll nach Kronberg blicken.

Und stramm war der neue Prediger. Die Mönchsheimer Kirchengemeinderäte hatten lange überlegt, für wen sie sich entscheiden sollten: den Frömmsten, den Gelehrtesten, den Freundlichsten, den Barmherzigsten oder den Gewichtigsten. Den Mönchsheimern war die Entscheidung nicht leicht gefallen, aber dann siegte doch das Gewicht. Man streitet sich zwar, ob der neue Pfarrherr einhundertundfünfzig oder nur einhundertvierzig Kilogramm Lebendgewicht mit ins Pfarrhaus brachte, aber "die alten Balken halten das locker aus", meinte der Kirchendiener, nur bei der alten morschen Treppe war er sich nicht so sicher. Es war schon beeindruckend, wenn Markus Rehmaier am Sonntagmorgen die wenigen Meter vom Pfarrhaus zur Kirche mit dem Kraftwagen zurücklegte, weil ihm zu Fuß die Puste ausgegangen wäre, der Höhenunterschied betrug mehr denn zwanzig Meter und die Kanzel wollte ja auch noch erklommen werden.

Rehmaiers liebste Beschäftigung war die Nahrungsaufnahme und hierzu nutzte er jede sich bietende Gelegenheit. Sitzungen und Empfänge mussten stets mit einer reichhaltigen Mahlzeit gekrönt werden. Trotz der Ehrfurcht, die man ins Mönchsheim einem Pfarrherrn gewöhnlich entgegenbringt, hatten einige Witzbolde ein Plakat an der Kirchentüre verunstaltet. "Brot für die Welt", stand dort zu lesen. "Aber die Wurst bleibt hier", war etwas ungelenk hinzugefügt. Dieser Witz war zwar schon uralt, dennoch hatte in Mönchsheim bisher niemand so etwas zu denken gewagt, noch weniger, es an die Kirchentüre zu schreiben.

Aber die uralten Texte müssen ja nicht die schlechtesten sein, schon der Evangelist Lukas schrieb über Herrn Rehmaier: "Hütet euch vor den Schriftgelehrten, die es lieben, in langen Gewändern einherzugehen, und lassen sich gern grüßen auf dem Markt und sitzen gern obenan in den Synagogen und bei Tisch".

Markus Rehmaier war also im Begriff, Mönchsheim ganz grundsätzlich zu verändern.

Paul Meinert unterbrach seine Erzählung: "Lieber Manfred, da ist dann noch was passiert, das muss ich dir unbedingt erzählen. Wir haben uns gekringelt vor Lachen. Stell' dir vor, da lese ich im Mönchsheimer Mitteilungsblatt, dass Herr Rehmaier am Sonntagmorgen den Gottesdienst ausfallen lässt. Und warum? Weil er am Sonntagabend seinen Freund Gretlmann als Gastprediger eingeladen hat. Für einen Sondergottesdienst zum Thema: 'Schlank durch Beten' oder 'Wer betet, wird schlank'. So ganz genau weiß ich es nicht mehr. Daraufhin gab es in Mönchsheim tagelange Diskussionen darüber, ob es wohl zutrifft, dass Herr Rehmaier noch nie gebetet hat. Bei dieser Körperfülle! Andere meinten dagegen, dass es bestimmt funktioniert, aber es jetzt an der Zeit ist, dass die ganze Gemeinde mitbetet, um wenigstens einige Pfarrerspfunde aus der Welt zu schaffen. Es war so lustig."

Wieder bestätigte sich meine Theorie, dass das wirkliche Leben dem Erzähler die verrücktesten Stoffe liefert, denn so etwas hatte ich noch nie gehört oder gelesen.

 

5. Versteckspiel

Paul schenkte mir frischen Kaffee ein. Eine kleine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber. "Jetzt hast Du mir einiges über die neuen Fundisten-Pfarrer in Deiner Umgebung erzählt", unterbrach ich die Stille, "aber mich interessiert viel mehr, wie die Geschichte mit dieser Kirchen-Musikschule weiterging." "Wenn Du die handelnden Personen kennst, wirst Du es viel besser verstehen", meinte Paul, "es ging folgendermaßen weiter . . ."

Nach dem Anruf seines Freundes aus Schockhausen überlegte Paul, wie da am besten vorzugehen wäre. Er entschied sich für den direkten Weg und wählte die Nummer des Pfarramts in Mönchsheim. Eine freundliche Stimme begrüßte ihn, es war die Sekretärin. "Herr Rehmaier ist momentan nicht zu sprechen, aber in zwanzig Minuten ist er wieder da. Soll er Sie zurückrufen?" "Nein, nicht nötig," antwortete Paul, "ich melde mich gleich wieder." "Um was geht es denn?" wurde Paul noch gefragt. "Es gehen so Gerüchte um, dass in Ihrer Gemeinde eine neue Musikschule gegründet werden soll, da wollte ich ganz direkt mal nachfragen." "Entsetzlich, was er alles anzettelt", platzte es aus Pauls Gesprächspartnerin heraus, "aber er macht sowieso, was er will, er entscheidet alles selbst und nimmt auf niemand Rücksicht." Paul war überrascht über diese Worte. Er kannte Herrn Rehmaier noch nicht persönlich, es hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, den neuen Pfarrer zu treffen. Aber dass er es nach so kurzer Zeit schon geschafft hatte, seine Mitarbeiter zu verstören, war kein gutes Zeichen. Das Gespräch war beendet und Paul fiel ein, dass ja auch der Dekan des Kirchensprengels ganz neu im Amt war. Eben erst war im Hengstenberger Tagblatt ein großer Bericht über den neuen Amtsträger erschienen. Ein großes Bild zierte die Zeitungsseite: Dekan Josef saß an seinem Schreibtisch und schaute den Tagblatt-Lesern freundlich in die Augen. 

Paul beschloss, auch gleich noch Herrn Josef anzurufen. Herr Josef war gleich selbst am Apparat. Paul stellte sich kurz vor und kam dann gleich zu seinem Anliegen. Der Dekan hörte ihm geduldig zu und gab ihm alsbald zu verstehen, das er vollstes Verständnis habe: "Ach du liebe Zeit, in Schockhausen nennen die das auch Musikschule? Das ist natürlich ein großes Problem für Sie. Aber keine Sorge, ich werde so schnell wie möglich Herrn Gretlmann anrufen und diese Sache mit ihm besprechen. So kann das ja nicht bleiben." Es gab noch einige freundliche Worte hin und her, Herr Josef lobte die städtischen Musikschulen über alles, schließlich hätten ja auch seine eigenen Kinder eine solche besucht.

Erleichtert legte Paul Meinert den Hörer weg. So viel Verständnis hatte er sich nicht erhofft. Gleich rief er den geplagten Freund in Schockhausen an und beruhigte ihn. Der Dekan werde die Sache schon richten, er solle sich mal keine Sorgen machen. Dann nahm Paul den Zeitungsartikel nochmals zur Hand: Herr Josef machte einen äußerst sympathischen Eindruck und blickte vertrauenserweckend in die Kamera. Nur ein Satz war irritierend: Herr Josef war einige Jahre lang Mitglied des Hengstenberger Kirchenparlaments gewesen, als Vertreter der Fundisten. Bestimmt eine Jugendsünde, dachte Paul, er sieht nicht aus wie einer von denen.

Aber auf die Probe stellen wollte er den Oberhirten dennoch. Und die Gelegenheit hierzu war günstig, denn es standen die Wahlen zum Hengstenberger Kirchenparlament an. Im Vorfeld dieser Wahlen gab es eine Vielzahl von Veranstaltungen. Die Kandidaten waren unterwegs von einem Dorf zum andern. Paul kannte aus seiner jahrelangen Beschäftigung in kirchlichen Diensten diese Rituale nur zu gut. Es lag nahe, einfach eine dieser Veranstaltungen zu besuchen und die handelnden Personen dort zur Rede zu stellen, denn einer der Kandidaten war kein anderer als Lukas Gretlmann, der Verursacher des ganzen Übels.

Zuerst aber beriet er sich mit Gebhard Hussler. Der Pianist und treue Freund war sofort bereit, sich mit dem Thema "Missbrauch des Namens 'Musikschule' zu ideologischen Zwecken" zu befassen. Sie überlegten hin und her und entwarfen ein Konzept. Paul würde versuchen, bei einer dieser Versammlungen ein Statement abzugeben. In der sich wahrscheinlich anschließenden Diskussion wollte Gebhard Hussler dann weitere Fragen stellen. Die Idee, dort gleich mit dem ganzen Lehrerkollegium anzutreten, hatten die beiden wieder verworfen, zu nett und entgegenkommend war Dekan Josef am Telefon gewesen.

Entgegen seiner Gewohnheit, bei solchen Gelegenheiten frei zu reden, entschloss sich Paul zur Ausformulierung seines Anliegens. Sollte der Dekan wider Erwarten die Partei der Usurpatoren zu ergreifen, sollte das Statement unbedingt einem Vertreter der obersten Kirchenbehörde übergeben werden. Herr Josef alleine hatte es also in der Hand, ob man die Angelegenheit auf der lokalen Ebene würde klären können oder ob sie größere Kreise ziehen musste.

"Herr Josef residiert ja gleich im Nachbarort", bemerkte Gebhard Hussler. "Dann besuchen wir dort die Kandidatenvorstellung!" entschied Paul Meinert. "Dort treffen wir in ganz sicher an. Ich bin sehr gespannt, ob seine Distanz zur christlichen Musikschule ehrlich ist oder ob er mir etwas vorgespielt hat."

 

6. Herr Josef ärgert sich

Die Kandidatenvorstellung war mit viel Liebe vorbereitet worden. Auf dem Tisch neben der Eingangstüre standen Getränke und Knabbersachen bereit, um den Plausch in der Pause etwas angenehm zu machen. Herr Hussler hatte schon einen Platz rechts außen in der dritten Reihe gefunden, wie sich später herausstellte, mitten in einer ganzen Gruppe von Besuchern aus Schockhausen, die ihren Kandidaten Lukas Gretlmann anfeuern wollten. Links außen hatte sich eine Gruppe aus Mönchsheim postiert, so waren der rechte und der linke Flügel fest in Fundistenhand. Paul Meinert kam erst in letzter Minute, er hatte bis zuletzt noch in der Schule zu tun gehabt. Als er seine Regenjacke im Vorraum ablegte, fragte in ein freundlicher Herr, ob er denn von der Presse sei. Jetzt erst fiel Paul auf, dass seine übergroße Tasche dem Behältnis einer großen Kamera täuschend ähnlich war. Der Fragende war Herr Josef selbst, kein Zweifel, erst gestern hatte Paul sein Bild in der Zeitung gesehen. Paul verneinte die Frage und hielt nach Herrn Hussler Ausschau, der ihm sicherlich einen Platz freigehalten hatte. 

Und schon ging es los. Dekan Josef sprach einführende Worte, begrüßte die Kandidaten und erläuterte das Procedere der Vorstellungsrunde. Er machte dabei einen sehr entspannten und sympathischen Eindruck, nicht anders hatte Paul ihn ja schon am Telefon erlebt.

(Fortsetzung folgt)